Ich bin ja auch selbst schuld. Was beschwere ich mich, dass hier kaum was los ist?! Das Schicksal, die Götter, Karma oder was auch sonst dafür zuständig ist, hat sich jedenfalls auf den Schlips getreten gefühlt und mir gestern einen - für meinen Geschmack - wesentlich ZU aufregenden Tag beschert.
Angefangen hat alles mit einer Shopping-Tour in La Défense mit Michael, Katharinas Freund, auf den ich ein wenig "aufgepasst" habe, weil sie so viel Uni hatte. Wir waren auch sehr erfolgreich und haben alles geschafft, was wir uns vorgenommen hatten. Zum Schluss wollten wir noch in den Auchan, einen großen Supermarkt, um ein bisschen Getränke einzukaufen für die Party abends bei Sean und Lindsay. An der Kasse wollte ich dann bezahlen und musste mit Schrecken feststellen, dass meine Kreditkarte nicht mehr in meinem Portemonnaie war! Wir haben dann meine Tasche und Tüten gründlichst durchsucht, sie aber nicht gefunden. Das war natürlich eher ungünstig, denn wir waren in einem riesig großen Einkaufszentrum, wo jemand, wenn er die Karte gefunden hätte, in sehr kurzer Zeit sehr viel Geld hätte ausgeben können - noch dazu ist das eine Karte ohne PIN, und eine Unterschrift ist schnell gefälscht, zumal die Kassierer auch bei weitem nicht immer nach dem Ausweis fragen!
Da ich aber keine halbe Stunde vorher in einem anderen Laden noch was mit der Karte bezahlt hatte, sind wir dann schnell dahin zurück und - oh Wunder! - die Verkäuferin hat mich sogar erkannt, neben die Kasse gegriffen und mir wortlos meine Karte wiedergegeben! Das war also nochmal Glück im Unglück.
Später war dann eben besagte Party, es war relativ voll und sehr lustig - von zwei kleinen Unglücken mit zuviel Alkohol mal abgesehen (ich war an keinem beteiligt!).
Nachdem wir um ca. 3 Uhr dann von den Gastgebern freundlich aber bestimmt gebeten wurden, zu gehen, wollten wir eigentlich zu Andi und dort noch ein wenig weiterfeiern, um dann um halb 6 die erste Métro zu nehmen. Doch dann kam alles ganz anders.
Wir liefen zu sechst am Rive Gauche an der Seine entlang. Die Straße verläuft 6 - 7 m oberhalb des Quais der Seine, also wo man unten am Fluss entlanglaufen kann, abgetrennt mit einer Mauer. Unten sind Bäume gepflanzt, die noch ein ganzes Stück höher als die Mauer reichen. Zwei der Jungs wollten gerne nach unten an die Seine, waren aber zu faul, 50 m weiter zu gehen, wo eine Zufahrt zum Quai gewesen wäre, und witzelten rum, sie wollten an den Bäumen nach unten klettern - natürlich eine halsbrecherische, bescheuerte Idee!
Leider war einer der beiden betrunken genug, die Idee für genial und leicht durchführbar zu halten, und sprang - trotz unserer Warnungen und meiner Versuche, ihn festzuhalten - von der Mauer aus in den Baum! Es gelang ihm noch, sich zweimal beim Abrutschen festzuhalten, bevor er dann geschätzte 4 m fast ungebremst runter fiel und mit dem fiesesten Geräusch, das ich jemals gehört habe, auf dem Kopfsteinpflaster unten aufschlug.
Mein Herz blieb für einen Moment stehen. Er bewegte sich zwar, stand aber nicht auf. Es war natürlich dunkel, aber wir konnten von oben sehen, dass er Blut im Gesicht hatte. Das und die Tatsache, dass er nicht aufstand, machte uns echt Angst. Wir riefen immer wieder, wenn er uns hört, sollte er antworten oder reagieren, aber er gab kein Zeichen und keinen Ton von sich.
Wir gerieten langsam in Panik - und dann fiel uns auf, dass keiner von uns eine französische Notrufnummer kennt! Das ist schon schlimm, wir leben seit über drei Monaten hier und wären in dieser Situation echt aufgeschmissen gewesen, hätten wir nicht an der Rampe drei französische Jugendliche getroffen, die für uns den Krankenwagen gerufen haben und ihn auch später zu uns gelotst und uns bei der Verständigung geholfen haben.
Hier jetzt also zur Information: für die Polizei wählt man die 17, für Feuerwehr / Krankenwagen die 18!
Wir rannten also die Rampe runter, ich in meinen hohen Hacken auf dem Kopfsteinpflaster, und zu Michael (nicht Katharinas Freund, sondern ein anderer). Der hatte eine Platzwunde an der Augenbraue, schien aber sonst okay. Er konnte Arme und Beine bewegen und sich ein wenig aufsetzen. Katharinas Michael, der bei der freiwilligen Feuerwehr ist, hat auch ein bisschen Erfahrung mit solchen Situationen und wusste, was zu tun ist.
Als dann nach einer scheinbaren Ewigkeit der Feuerwehrwagen ankam (hier ist das irgendwie so eine Kombi aus Feuerwehr und Krankenwagen), haben die sich sofort der Sache angenommen und wir konnten uns alle ein wenig beruhigen, denn wir anderen 5 standen natürlich völlig unter Schock - man sieht nicht jeden Tag einen Freund 4 Meter stürzen und auf Kopfsteinpflaster knallen!
Dann kam auch noch der Sanitätswagen, Ärzte und Polizei. Ich war echt überrascht von mir selbst, denn obwohl ich innerlich gezittert und geheult habe und mich am liebsten irgendwo verkriechen wollte, habe ich es geschafft, das zu unterdrücken und den Rettungskräften und der Polizei zu schildern was passiert ist, Michaels Personalien aufzugeben, seine genaue Adresse von seinem Mitbewohner in Erfahrung zu bringen und zu fragen, was genau weiter passiert und in welches Krankenhaus er gebracht würde.
Nach ca. 30 min Behandlung am Unfallort wurde dann auch der Transport vorbereitet und ich bin im Rettungswagen mit ins Krankenhaus gefahren - übrigens das erste Mal in meinem Leben, dass ich Notarztwagen gefahren bin, mit Blaulicht aber ohne Sirene.
In der Notaufnahme angekommen, es war ca. 4 Uhr, wurde Michael dann zunächst in einen Erstbehandlungsraum gefahren und ich musste wieder seine Personalien angeben und allen möglichen administrativen Kram regeln. Dann wurde er aus dem Behandlungsraum raus- und in den einen anderen reingeschoben, ich durfte natürlich nicht mit.
Die anderen vier hatten sich auch auf den Weg gemacht und waren gegen 4:45 dann auch da. Aber wie das eben in Krankenhäusern so ist, man sieht, hört und erfährt nichts. Da ich nur drei Metrostationen von Michael entfernt wohne, wollte ich bleiben und ihn nach Hause bringen, da es für mich der geringste Umweg war. Und gegen 5:30 habe ich dann die anderen mit der ersten Metro nach Hause geschickt, damit sie ein bisschen schlafen und sich beruhigen können. Es war ja jetzt klar, dass ihm nichts schlimmes passiert war und er wirklich eine riesige Portion Glück gehabt hatte. Bei so einem Sturz hätte er sich leicht wesentlich schlimmere Verletzungen zuziehen können!
Seine Platzwunde wurde genäht und beim Röntgen stellte sich dann raus, dass er sich auch sein linkes Handgelenk gebrochen hatte. Das wurde noch eingegipst und gegen 7:30 konnten wir dann endlich das Krankenhaus verlassen.
Leider befanden wir uns im 15. Arrondissement, das gaaaaaanz im Südwesten der Stadt liegt. Michael wohnt aber im Osten, und eher gegen Norden! Also einmal mit der Metro quer durch die ganze Stadt! Um 8:30 hatte ich ihn dann auch erfolgreich ins Bett verfrachtet und bin gegen 9 dann - dem Tod nahe - in mein eigenes Bett gefallen, das ich nach 5 Stunden wieder verlassen habe, um meinen Rhytmus nicht völlig durcheinander zu bringen.
Gelernt habe ich aus der Sache folgendes:
1. Ich beschwere mich NIE wieder, dass hier nichts los ist!
2. Man sollte IMMER die Notrufnummern kennen!